Fallbeispiel III: Mikrostudie zu Lernapps am Beispiel Book Creator

Wie am Ende des letzten Abschnitts angemerkt, lassen sich die Auseinandersetzungsprozesse mit LMS.lernen.hamburg im Prinzip auf sämtliche digitale Technologien, die in den Projektschulen genutzt werden (sollen), übertragen, insbesondere auch auf solche, die in deutlich kleinerem Umfang etwa im Rahmen einzelner Fächer eingebunden werden. So haben wir uns im Rahmen des ersten Projektschuljahrs etwa an der Grundschule Franzosenkoppel genauer mit der Book Creator-App (BC) beschäftigt und im Rahmen von SMASCH hierzu eine Mikrostudie initiiert.
Book Creator (BC) ist eine App, mithilfe derer virtuelle Bücher erstellt werden können. Gerade weil die Betreiber.innen von BC explizit damit werben, dass die App mit ihrem auf Produktion fokussiertem Design Dinge wie Kreativität, kollaboratives Arbeiten, Partizipation oder individuelle Differenzierung ermöglicht, und gleichzeitig fachübergreifend einsetzbar ist, bot sich eine ausgezeichnete Gelegenheit, diese Versprechen des Designs in der Praxis zu prüfen und mit Einsatz- bzw. Gestaltungsszenarien im Kontext Grundschule zu experimentieren. So sollte näher untersucht werden, wie sich der Umgang mit der App auf den Unterricht auswirkt und, insbesondere, inwiefern die Praxis des Ausprobierens und Generierens von Erkenntnissen auf das Mindset der beteiligten Lehrkräfte zurückwirkt, also ihre didaktisch-pädagogischen Orientierungen zum Einsatz von Technologien im Unterricht beeinflusst. Die Mikrostudie fand im Zeitraum Januar bis Juni 2022 statt.

Start der Erprobungsphase war seinerzeit eine Pädagogische Jahreskonferenz und darauffolgende Stufenkonferenzen, im Rahmen dessen sich Lehrkräfte über potentiell gewinnbringende digitale Technologien für ihren Unterricht austauschten und SMASCH in diesem Kontext unterschiedliche Apps vorstellte. Der Fachbereich Sachunterricht beschloss daraufhin, BC jahrgangsübergreifend initial und begleitet zu erproben. Kern der Mikrostudie waren dann insbesondere zwei Lehrerinnen, die auch Mitglied der schulischen SMASCH-Gruppe sind. Diese beiden Lehrerinnen gestalteten für den ersten Jahrgang ein probeweises, sich über mehrere Monate erstreckendes Lernszenario mit BC. Das Lernszenario bestand darin, dass die Schüler.innen mithilfe von BC ein Lerntagebuch erstellen, in welchem sie ihren Lernprozess im Fach Sachunterricht dokumentieren und reflektieren. Die Idee war, dass BC damit eine neue/weitere Dimension von Lernen eröffnet, indem die Schüler.innen über ihr Lernen nachdenken und dieses in Gruppen in ein digitales ‚Lernprodukt’ übertragen. Damit würde gleichzeitig, so die Idee, digitale Medienkompetenz geschult.

Entlang der Experimentierphase mit dem Lernszenario im Unterricht bestand die Studie zunächst aus den folgenden Komponenten:

  1. Eine Design-Analyse (mittels der sog. ‚Walkthrough-Methode’, Light et al. 2018) der App durch die SMASCH-Wissenschaftler.innen, bei der es vor allem darum ging, Komponenten wie etwa Kreativität, Differenzierung oder Kollaboration im Design nachvollziehbar zu machen (z.B. bedeutet Kreativität bei BC vor allem, dass eine Reihe von Vorlagen existiert, aus denen Schüler.innen ‚eigene’ Produkte zusammenstellen können). Hierbei wurden sowohl aus der Perspektive der Lehrkraft als auch aus Perspektive von Schüler.innen sogenannte Testbücher erstellt.
  2. Dokumentationen der Unterrichtserfahrungen durch die Lehrkräfte beim Ausprobieren von BC. Dokumentationsleitfäden erhielten sie hierbei durch die Wissenschaftler.innen (z.B.: ‚Überlegen Sie, an welchen Stellen Sie wichtige pädagogische Momente bei den Kindern erlebt haben. Welche Rolle hat hier BC gespielt?’ oder ‚Wie haben Sie erlebt, dass die Kinder die App wahrnehmen/über Sie sprechen?’).
  3. Regelmäßige Reflexionsrunden, bei denen die Wissenschaftler.innen, die schulübergreifende medienpädagogische Begleitung sowie die beiden Lehrerinnen zusammenkamen. Die Reflexionsrunden wurden entlang von offen formulierten Leitfragen strukturiert; hierbei diente das in jeder Phase produzierte Material, u.a. Notizen, Fotos, Logbücher, Hypothesen und Präsentationen als Grundlage, um Beobachtungen zu reflektieren und Gestaltungsideen weiterzuentwickeln.

Durch den Mix aus Reflexions- und Erprobungsphasen sowie durch das Zusammenführen von (medien)pädagogischen, fachdidaktischen und wissenschaftlichen Perspektiven, konnte eine extrem gehaltvolle Betrachtung von BC erreicht werden, im Rahmen derer sämtliche an der Mikrostudie teilhabenden Akteur.innen lernten, auch aus anderen Perspektiven auf BC zu schauen. Insgesamt entstand auf diese Weise eine Art gemeinsamer Erfahrungsraum, der Perspektivwechsel zunehmend leichter möglich machte und ein tieferes Verständnis dafür ermöglichte, an welchen Stellen und unter welchen Bedingungen digitale Lerntagebücher im BC-Design einen didaktisch-pädagogischen Mehrwert etwa gegenüber analogen Lerntagebüchern haben können.

Die Antwort darauf, so ein zentrales Ergebnis, ist genauso vielschichtig, wie der Prozess selbst, der nachfolgend ausschnitthaft dargelegt wird. Hierbei konzentrieren wir uns auf die temporale Gleichzeitigkeit verschiedener Lerndimensionen, da dies in der Mikrostudie zentral war. Konkret manifestierten sich im Kontext der Mikrostudie drei parallellaufende Lerndimensionen als relevant: Erstens die Metakompetenz von Schüler.innen, den eigenen Lernprozess zu reflektieren und in Lerntagebüchern zu materialisieren; zweitens der Erwerb von Medienkompetenz in der Auseinandersetzung mit BC. Beide Kompetenzbereiche liegen, drittens, quer zu den fachlichen Lernprozessen bzw. Kompetenzen (hier: Sachunterricht) und sollen letztere im Prinzip methodisch unterstützen.

In Bezug auf das eigene Handeln identifizierten die mitwirkenden Lehrerinnen frühzeitig eine kontinuierliche Überlagerung dieser drei Kompetenzarten (Medien, Meta- und Fachkompetenz) durch die App-Nutzung und, damit einhergehend, ebenso eine komplexe Verflechtung bzw. Dynamisierung von Anforderungen, die an sie selbst gestellt werden. So verglichen die Lehrerinnen ihre eigene Rolle bei der Bewältigung dieser sich überlagernden Bedarfsanforderungen mit derjenigen eines ‚Oktopus‘, der die Schüler.innen sowohl bei der Verarbeitung des eigenen Lernprozesses (Metakompetenz) als auch im Umgang mit der App (Medienkompetenz) simultan begleiten muss (Lehrkraft in der Reflexionsrunde vom 06.04.2022), während gleichzeitig Fachinhalte vermittelt werden sollen. Dieser ‚Oktopus-Effekt‘ zeigte sich besonders stark beim Erwerb von Medienkompetenzen, da die jüngeren Schüler.innen ausgesprochen viel Hilfestellungen bei der Bedienung der App benötigten, was immer wieder Kapazitäten der Fachvermittlung einschränkte.

Abbildung 8: Templates in der App Book Creator

Ein prominentes Versprechen von BC ist das differenzierte Lernen, insbesondere, weil laut App (ggf. fehlende) Lese- und Schreibkompetenz durch weitere multimediale Gestaltungsoptionen kompensiert werden können, etwa durch die Verwendung visueller Zeichen oder durch das Einsprechen von Texten. Diese Kompensationsfunktion erschien den Lehrerinnen aus didaktisch-pädagogischer Perspektive besonders fruchtbar für jüngere Jahrgänge, damit sachunterrichtliche Lernprozesse im Sinne eines vernetzten Lernens, auch unabhängig vom Schrift-Sprach-Erwerb möglich werden. In der Mikrostudie zeigte sich jedoch, dass dies nicht bedingungslos zutrifft bzw. dass die Verwendung von BC in diesen Jahrgängen Grundfertigkeiten in Lesen und Schreiben nicht kompensiert, sondern vielmehr in vorausgesetzte Medienkompetenzen überführt, die weiterhin stark an Lesekompetenz orientiert sind (z.B. das Lesen von Anweisungen im Design, etwa wenn Popup-Fenster auftauchen). Entsprechend machten die Lehrerinnen immer wieder die Erfahrung, dass Schüler.innen das virtuelle Lerntagebuch mit BC nur mithilfe intensiver mediendidaktischer Betreuung erstellen und bearbeiten konnten. Die fach- und mediendidaktisch erhofften Synergieeffekte zwischen BC, dem Lerntagebuch und den Inhalten im Fach Sachunterricht, blieben in diesen ersten experimentellen Unterrichtseinheiten aus, was sich insbesondere negativ für diejenigen Schüler.innen aus der Klasse zeigte, die ohnehin benachteiligt sind (und mithilfe der App-Nutzung eigentlich gefördert werden sollten).

Gleichzeitig – und hier sehen wir die besondere Stärke von SMASCH – konnten die Studienbeteiligten durch den intensiven Austausch relativ genau nachvollziehen, woran dieses ‚Scheitern’ der App in diesem bestimmten Kontext lag und welche Faktoren verändert werden müssten, um dieselbe App ggf. deutlich erfolgreicher einzusetzen. Im vorliegenden Fall war ein ganz entscheidender Faktor das junge Alter der Schüler.innen, von denen die wenigsten bereits sicher und selbstständig mit digitalen Medien interagieren konnten (Lehrkraft in der Reflexionsrunde vom 06.04.2022).

An dieser Stelle, die zugleich das Ende des ersten Projektschuljahres markiert, stellte sich abschließend die Frage, wie sich die Erfahrungen der beiden Lehrerinnen mit Erfahrungen anderer Lehrkräfte der Schule mit BC spiegelten. Für diesen Schritt wurde, basierend auf den Erkenntnissen aus den Reflexionsrunden, ein Fragebogen entwickelt, der im Rahmen einer Konferenz an Lehrkräfte verteilt und im Anschluss ausgewertet wurde. Überdies wurde eine Fachkonferenz Sachunterricht zum Anlass genommen, eine Stunde lang mit den Kolleg.innen in den anderen Jahrgängen darüber zu sprechen, inwiefern ähnliche oder andere Erfahrungen mit BC gemacht wurden. In der Tat waren die Eindrücke anderer Lehrkräfte gerade in höheren Jahrgängen deutlich positiver, was die besondere Relevanz des Alters, in dem die App genutzt wird, nochmals verdeutlicht.

Wichtig ist, dass negative Erfahrungen mit einer Technologie im Unterricht im Rahmen von SMASCH eben nicht dazu führen sollte, Apps & Co. insgesamt über Bord zu werfen, sondern vielmehr eine kritische Grundhaltung zu entwickeln, Versprechen von Apps bewusst zu hinterfragen, experimentell zu erproben und praktisch (z.B. für den eigenen Klassenkontext) einzuordnen. Entsprechend haben auch die beiden Lehrerinnen, die an der Mikrostudie beteiligt waren, nun keineswegs weniger Lust, Technologien einzusetzen, aber sie sind sich der zahlreichen nicht-auflösbaren Spannungsfelder deutlich bewusster, die einen Technologieeinsatz begleiten.